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EKD-Papier »Rechtfertigung und Freiheit«

Was die Reformation aktuell werden lässt

Vor wenigen Tagen präsentierte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) die Schrift »Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Refor­mation 2017« – und eröffnete damit die Diskussion über das bevorstehende Jubiläum. Die Beiträge zum Juni-Titelthema beteiligen sich daran: Was war das für ein Ereignis, dessen da gedacht wird? Ist das Reformationsjubiläum überhaupt ein Grund zum Feiern? Und nicht zuletzt: Wie zeitgemäß ist Luther noch?

Christoph Markschies14.06.2014

Ein Jubiläum steht an: 500 Jahre Reformation 2017. Was soll gefeiert werden? Eine gewisse Ratlosigkeit hat sich im Vorfeld des Jubiläumsjahres ausgebreitet. Historisch betrachtet ist es zwar wahrscheinlich, dass Martin Luther am Vorabend des Allerheiligenfestes 1517 an das stadtseitige Hauptportal der Wittenberger Schlosskirche 95 Thesen über den Ablass hat anschlagen lassen – aber die Thesen selbst enthalten gar nicht viel von dem, was man „reformatorische Theologie“ nennt. Ein kluger Reformationshistoriker hat sie gar „vorreformatorisch“ genannt, und viele sind davon überzeugt, dass sich bei Luther ein vollständiges Bild seiner reformatorischen Theologie erst 1518 formte. Zudem darf man sich natürlich unter dem Stichwort „Thesenanschlag“ keinen Max Schmeling mit Luther-Maske vorstellen, der mit wuchtigen Hammerschlägen ein Thesenblatt an einer Tür befestigt; Anschläge wurden auch damals schon mit einer Art von Reißzwecken durch die Pedelle am akademischen Anschlagbrett, eben der Tür, befestigt.

Einladung zur Debatte – damals wie heute

Was also feiern? Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland legte dazu im Mai eine kleine Broschüre unter dem Titel „Rechtfertigung und Freiheit“ vor, die Antworten auf diese Frage formuliert und sich nicht nur an die Insider in der evangelischen Kirche selbst richtet, sondern auch an Christenmenschen anderer Konfessionen und die allgemeine Öffentlichkeit, die zum Mitfeiern eingeladen werden. Zunächst einmal macht der Text darauf aufmerksam, dass für das Erinnern an die Reformation gilt, was für alles Erinnern und insbesondere die großen Jubiläen gilt: Jubiläen rekonstruieren nicht einfach wie die historische Wissenschaft möglichst präzise eine längst vergangene Vergangenheit, sondern aktualisieren Erinnerung für eine bestimmte Gegenwart. Es hat sich hierzulande seit dem siebzehnten Jahrhundert eingebürgert, sich an die Reformation mit Bezug auf den 31. Oktober 1517 zu erinnern – da wäre es besserwisserisch, ausgerechnet nach fünfhundert Jahren ein anderes Datum als Gedächtnistag auszurufen, nur weil sich inzwischen herausgestellt hat, dass es geeignetere Daten gegeben hätte als das Ereignis, das im Kurfürstentum Sachsen vor dreihundertfünfzig Jahren für das Reformationsgedenken ausgesucht wurde.

Die seit Einrichtung dieses Gedenktags mehr oder weniger übliche Verbindung der Erinnerung an die Reformation mit dem Oktoberdatum 1517 betont die für einen Bettelmönch und Professor an einer mitteldeutschen Reformuniversität in der Tat erstaunliche Souveränität – da wird mit Thesen nicht nur eine begrenzte akademische Öffentlichkeit einer erst seit kurzem als Landeshauptstadt dienenden Kleinstadt zur Debatte eingeladen, sondern gleich tendenziell die ganze gebildete Welt. Da empfiehlt ein Bettelmönch seinem Landesherren, dem Kurfürsten Friedrich dem Weisen, im Jahr darauf, sich bei Steuerhöhungen doch besser zurückzuhalten, weil das seinem öffentlichen Ansehen schaden könne. Und da beruft sich 1521 ein als Häretiker verdächtigter Theologe vor dem Reichstag zu Worms und damit vor den Granden des Reiches ganz selbstbewusst auf sein Gewissen, gegen das zu handeln schädlich sei. Die enge Verbindung der Erinnerung an die Reformation mit dem Jahr 1517 macht deutlich, dass Reformation etwas mit der Freiheit eines Christenmenschen zu tun hat, die ihm auch unter den Bedingungen frühneuzeitlicher Staatlichkeit frei zu reden erlaubt vor den Mächtigen und Großen.

Unverzichtbarer Akzent

Natürlich – und auch das macht der Text des Rates der Evangelischen Kirche ganz klar – ist dieses Verständnis von Freiheit, das Martin Luther 1520 in einer seiner später sogenannten reformatorischen Hauptschriften entfaltet, nicht mit dem späteren neuzeitlichen Freiheitsverständnis beispielsweise der amerikanischen und französischen Revolution des achtzehnten Jahrhunderts identisch. Wenn Luther sich 1521 auf das Gewissen beruft, meint er natürlich auch nicht die Gewissensfreiheit, wie sie im Grundgesetz verankert ist. Aber die Reformation gehört zentral zur neuzeitlichen Freiheitsgeschichte, selbst wenn Freiheit bisweilen gegen die christlichen Kirchen erkämpft werden musste. Und gleichzeitig gilt: Das reformatorische Freiheitsverständnis macht in den gegenwärtigen Debatten über Freiheit einen unverzichtbaren Akzent deutlich – die Einsicht, dass wahre Freiheit nicht schrankenloses Freisein von etwas oder gar von allem bedeutet, sondern in einer Dialektik von Frei-Sein und Gebunden-Sein zu entfalten ist, von befreit werden und sich in Dienst nehmen lassen.

Luthers reformatorische Entdeckung wird in dem Text „Rechtfertigung und Freiheit“ scheinbar ganz traditionell mit fünf Formulierungen entfaltet, die die Näherbestimmung „allein“ enthalten: allein Christus, allein aus Gnade, allein im Wort, allein aufgrund der Schrift, allein durch den Glauben. Scheinbar ganz traditionell, weil diese Konzentration auf vier „allein“-Formulierungen sich Lehrbüchern des neunzehnten Jahrhunderts verdankt. Aber auch diese knappen Formeln sind Teil des kulturellen Gedächtnisses unter dem Stichwort „Reformation“. Mit diesen vier Formeln wird die reformatorische Theologie zusammengefasst, die nicht nur Martin Luther, sondern ein ganzes Netzwerk von Männern (und wenigen Frauen, um der Wahrheit die Ehre zu geben) im sechzehnten Jahrhundert entwickelte, Melanchthon gehört dazu, aber auch Bucer, Calvin und Zwingli, Argula von Grumbach und Katharina Zell.

Die klassischen Formeln fassen die Erfahrung zusammen, dass Christenmenschen sich frei gesprochen fühlen von Gott, angenommen trotz aller Fehler und Versäumnisse, nicht reduziert auf ihre Taten oder Leistungen. Das meint Rechtfertigung: der tragende Grund des Gefühls, im Entscheidenden frei zu sein von den problematischen Urteilen und Maßstäben dieser Welt und damit auch frei dafür, das Notwendige tapfer und fröhlich tun zu können.

Eine solche Einsicht ist nicht deckungsgleich mit jeder Form neuzeitlichen Freiheitsgefühls, aber es lohnt, immer wieder an diese christliche Einsicht zu erinnern, weil sie nicht nur große kulturelle und gesellschaftliche Folgen hatte (da muss man nicht immer nur Schütz, Bach und Reger nennen), sondern auf Unverzichtbares für die Gegenwart aufmerksam macht.

Christoph Markschies
Prof. Dr. Christoph Markschies seit 2004 Professor für Ältere Kirchengeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, deren Präsident er von 2006 bis 2010 war. Seit 2015 ist er Leiter des Berliner Instituts Kirche und Judentum. Zuletzt erschien „Das antike Christentum: Frömmigkeit, Lebensformen, Institutionen“ (3. Auflage, C.H. Beck, 2016).

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